Dankbare Erinnerung an eine großartige Frau von Ulrike Volke
Vor genau 40 Jahren sind wir uns erstmals begegnet. Ruth Bratu war gerade 60 geworden, ich 28. Mein Mann und ich waren 1983 von Marburg nach Darmstadt gezogen. Ich war schwanger, und mir war eine der sehr seltenen Lehrerstellen angeboten worden. Ich kannte niemand in Darmstadt. Mein Mann war Vikar und deshalb oft wochenlang im Predigerseminar, daher wenig zuhause.
Ich war interessiert an neuen Impulsen und Kontakten – auch über das Schulleben hinaus. Im Studium hatte ich mich sehr mit dem Judentum beschäftigt. Und jetzt wollte ich gerne jüdisches Leben kennenlernen. Ich rief im Büro der jüdischen Gemeinde an. Die Sekretärin, Goda Jahn, lud mich zum monatlichen Frauentreffen so herzlich ein, dass ich die Einladung sofort annahm. Frauen verschiedenen Alters, die sich regelmäßig einmal im Monat donnerstags trafen. Frauen mit kleinen Kindern, Frauen im Oma-Alter. Das fand ich spannend. Ruth Bratu kam auf mich zu und hieß mich sehr herzlich willkommen. Wir kamen schnell ins Gespräch und Ruth erkundigte sich: „Wo kommst du her? Was machst du jetzt in Darmstadt? An welcher Schule bist du?“ „Ach, Thomas-Mann-Schule. Da war jetzt gerade das CISV-Camp in den Sommerferien“. Ich: „CISV – Was ist das denn?“ „Children International Summer Village.“ Sie erklärte mir sehr gut, warum sie sich so stark für dieses internationale Treffen von 11-Jährigen einsetzt. „Wenn sich Kinder von verschiedenen Ländern miteinander treffen, miteinander spielen, miteinander essen, miteinander lachen und Spaß haben, dann werden sie wohl nicht als Erwachsene aufeinander schießen.“ Das leuchtete mir ein. Schnell freundeten Ruth Bratu und ich uns an. Sie bot mir bei der ersten Begegnung das „Du“ an. Keine Selbstverständlichkeit damals. Oft lud sie mich zum Gottesdienst in die jüdische Gemeinde in der Osannstraße ein. Männer auf der einen Seite, Frauen auf der anderen Seite. Die Frauenseite war oft sehr gut besetzt. Aber wir mussten mit demGottesdienst noch warten, manchmal lange warten, bevor es wirklich ein Minjan gab, also 10 Männer anwesend waren. Ich fand das frauenfeindlich, die Frauen zählten nicht für den Beginn des Gottesdienstes. Ruth sagte zu mir: „Du musst das mal positiv sehen. Wir Frauen sitzen hier und erzählen uns schöne Dinge. Schau dir die Männer an, die haben richtig Stress. Sie müssen noch zwei Männer von irgendwoher holen, damit es losgehen kann.“
Ziemlich bald fanden Ruth und ich selber auch, dass ich Mitglied der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Darmstadt werden sollte. Sie und Friedel Wollmerstedt (eine Jüdin, die auch in der GCJZ war) nahmen mich „auf“. So ganz nebenbei erfuhr ich, dass Ruth 1980 – nach Alexander Haas – den jüdischen Vorsitz in der GCJZ übernommen hatte.
Bei diesen Donnerstagstreffen waren immer zwei Frauen für den Kuchen zuständig. Eine Zeit lang waren Ruth und ich ein Tandem: Sie sorgte für den weltbesten Apfelstrudel und wünschte sich, dass ich eine Schwarzwälder Kirschtorte mache.
Der Donnerstagnachmittag, an dem sich die Frauen in der jüdischen Gemeinde trafen, wurde ein fester Termin in meinem Kalender. Hier in der Osannstraße lernte Jonas, unser älterer Sohn, Treppenstufen zu erklimmen. Zu Hause hatten wir nämlich keine Treppe. Viele Frauen hatten dann Angst, dass Jonas hinfallen würde und sich wehtun könnte. Aber Ruth meinte: „Lasst doch den kleinen Kerl mal ganz in Ruhe! Der schafft es schon. Fallen, und wieder aufstehen! Das muss man früh üben!“
Ich erinnere mich, dass Jonas im Alter von etwa drei oder vier Jahren gerne mit Andreas, einem zwei Jahre älteren Jungen, spielte. Einmal verkrümelten sich die beiden in den Gottesdienstsaal. Hier wollten sie ungehindert spielen und unbeobachtet toben. Aber Mutter heftete sich an ihre Fersen und wollte sie zurückholen. Darauf Jonas: „Wir wollen doch nur das Licht ausmachen.“ Er deutete auf das ewige Licht. Ich erklärte ihm, dass das immer brennt und warum. Jonas: „Auch bei Tag?“ Ich nickte. Jonas staunend: „Und wer bezahlt das? Gott?“ Ruth Bratu kommentierte das lachend: „Ja, ja, das protestantisch-sparsame Elternhaus hinterlässt früh Spuren.“
Am Tauftag von Daniel, unserem jüngeren Sohn, nahm mich Ruth beiseite und schenkte mir eine sehr große Tasche, eigentlich einen kleinen Koffer, mit allem, was eine junge Mutter braucht, um mit ihrem Baby gut reisen zu können. Sie strich dem frisch getauften Daniel über den Kopf und sagte: „Hallo, kleiner Daniel, wir Juden reisen gerne. Und deshalb musst du unbedingt eine gute Reiseausrüstung haben!“ Niemand ist in unserer Familie so früh und auch so viel gereist wie unser Daniel. Dank Ruth Bratu mit 11 Jahren mit dem CISV nach Toronto. Gerade lebt er, inzwischen 36, mit seiner kolumbianischen Ehefrau und seinen beiden Kindern in Kopenhagen.
Als Ruth krank wurde und ihr die ganzen CISV-Shirts nicht mehr passten, schenkte sie mir diese. Frühzeitig machte sie sich auch Gedanken, wer ihre Nachfolge im Vorstand der GCJZ übernehmen könnte.
Ruth Bratu würde am 28. Oktober 100 Jahre alt.
Ich bin dankbar, dass ich diese Brückenbauerin, diese Frau mit dem ausgeprägten Humor und dem großen Herzen kennenlernen durfte.