– es gilt das gesprochene Wort –
Sehr geehrter Herr Neumann, sehr geehrte Vorstandsmitglieder und Mitglieder der jüdischen Gemeinde,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Benz,
sehr geehrter Herr Stadtverordnetenvorsteher Akdeniz,
sehr geehrte Damen und Herren,
zum Gedenken an die Novemberpogrome von 1938 und zum Nachdenken über unsere Verantwortung heute haben wir als evangelische, jüdische und katholische Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Darmstadt – einen gemeinsamen Beitrag vorbereitet. Wir werden ihn abwechselnd vortragen.
Wir möchten Sie an dieser Stelle schon herzlich einladen zum Empfang aus Anlass des 70jährigen Bestehens unserer Gesellschaft, der im Anschluss an diese Gedenkveranstaltung im Breuer-Saal stattfindet.
Meine Damen und Herren,
Es mag so scheinen, als ob das Gedenken an die Novemberpogrome von 1938 ganz selbstverständlich zum Darmstädter Kalender gehöre wie andere öffentliche Veranstaltungen auch. Das war nicht von Anfang an so.
Die erste Gedenkveranstaltung zum 9. November in Darmstadt fand 1957 auf Einladung der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Darmstadt statt. Bis dahin hatte die Erinnerung an die Zerstörung der Stadt 1944 ganz im Mittelpunkt gestanden. 1958 rief Oberbürgermeister Ludwig Engel zu einer stillen Gedenkstunde auf dem Grundstück der ehemaligen jüdischen Schule Ecke Grafenstraße/Bleichstraße auf. In seinem Aufruf erinnerte er daran, dass zuerst Brandfackeln in jüdische Gotteshäuser geworfen wurden und dann dieses Feuer im Bombenkrieg auf die gesamte Bevölkerung zurückfiel. Die nächsten Gedenkveranstaltungen gab es 1963 und 1967. Seither laden in jedem Jahr Stadt, jüdische Gemeinde und GCJZ zum Gedenken ein.
Manche sind der Meinung, wir hätten genug erinnert.
Dem widersprechen wir entschieden.
Der im Nationalsozialismus entrechteten, ausgegrenzten, deportierten und ermordeten Jüdinnen und Juden zu gedenken, der Zerstörung der Synagogen zu gedenken, bleibt eine wichtige Aufgabe. Die Nationalsozialisten wollten alles jüdische Leben auslöschen, alle jüdischen Menschen vernichten. Auch die Erinnerung an die Ermordeten, an ihre Kultur, ihre Religion sollte ausgelöscht werden. Diese Rechnung darf niemals aufgehen. Deshalb muss das Gebot, die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern, ihre Namen und ihre Schicksale zu bewahren, weiter gelten. Wir wollen die Menschen, die am 9. November 1938 ihre Synagogen brennen sahen, deren Geschäfte und Wohnungen demoliert wurden, die misshandelt und gedemütigt und in Konzentrationslager verschleppt wurden, nicht vergessen. Angesichts der gegenwärtigen Geschehnisse, müssen neue Konzepte für die Erinnerungsarbeit geschaffen werden.
Zugleich gilt weiterhin ein Wort des Philosophen Theodor W. Adorno, der in seinem berühmten Vortrag zur Erziehung nach Auschwitz sagte: „Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären“. Und dem ist leider nicht so.
Und: Wir erleben mit großer Besorgnis und großem Schrecken, dass antisemitische Äußerungen und Handlungen in unserem Land seit dem Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober und dem dadurch ausgelösten Krieg im Nahen Osten massiv zugenommen haben. Vor kurzem wurde das Mahnmal am Ort der 1938 zerstörten Synagoge an der Bleichstraße mit einem Hakenkreuz beschmiert.
Wir erleben mit großer Besorgnis und großem Schrecken wie die Unterstützung für völkisch-nationalistische, rechtsextreme und populistische Bewegungen und Parteien und Positionen wächst. Wir erleben auch ein wiederaufleben antisemitischer und antiisraelischer Haltungen einer Reihe von antiimperialistischer Gruppierungen. Und wir erleben einen stetig wahrnehmbareren Anteil antisemitischer und antiisraelscher Aggression durch islamistische Kreise der Gesellschaft.
Dem Schriftsteller Mark Twain wird die Aussage zugeschrieben, dass sich Geschichte nicht wiederholt, aber dass sie sich reimt. Ursachen und Erscheinungsformen von Antisemitismus und Rechtsextremismus sind in Teilen anders als in den 1930er Jahren, und auch die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen sind andere. Aber die Gefahr ist groß, dass sich die Geschichte im Blick auf Antisemitismus und Verfolgung von Menschen, die als „anders“ definiert werden und im Blick auf Autoritarismus und Rechtsextremismus reimt.
Meine Damen und Herren, wir müssen als Bürgerinnen und Bürger, als Vertreterinnen und Vertreter von Institutionen und Initiativen alles dafür tun, dass dies nicht geschieht.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November verwüsteten SA- und SS- Trupps die Synagogen an der Ecke Bleich-/Grafenstraße, in der Friedrichstraße und an der Modaubrücke in Eberstadt und zündeten die Gebäude an. Von einigen Zuschauern und Zuschauerinnen gab es unterstützende Rufe, die meisten schwiegen betreten. Zeichen des Protestes oder gar der Gegenwehr gab es keine. Während die Synagogen noch brannten, demolierte ein SA-Trupp Geschäftsräume und Wohnungen von Jüdinnen und Juden. Es gab körperliche Demütigungen und Misshandlungen, Verletzte und Tote. Zahlreiche Juden, v.a. arbeitsfähige Männer wurden inhaftiert und in das KZ Buchenwald gebracht.
Antisemitismus, Rassismus, Autoritarismus, Gleichgültigkeit, Mangel an Zivilcourage, Lust an der Erniedrigung anderer Menschen und an Gewaltausübung, Habgier – all das hat dazu geführt, dass Menschen sich beteiligt, zugesehen und nicht widerstanden haben.
Der 9. November war ein Wendepunkt hin zur systematischen Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus. Doch während man der toten Juden gedenkt, wird oft übersehen, wie dringend es ist, sich den heutigen Bedrohungen zu stellen: dem erstarkenden Antisemitismus und der immer weiter um sich greifenden Normalisierung von Israelhass, erschreckend populär gewordenen Antisemitismus in der Kunstszene und, als ob es nicht genug wäre, die täglichen. Seit dem 7. Oktober befinden sich die Israelis und Juden der Diaspora in einem Trauma zustand. Die Szenen der Gewalt gegen Juden, die uns täglich erreichen, führen zur nicht endenden Retraumatisierung.
Diese Entwicklungen darf man nicht einfach vor sich herschieben.
Die Lehren aus der Erinnerung müssen von der Politik und Gesellschaft in die Gegenwart und Zukunft getragen werden. Die Besorgnis erregenden aktuellen Entwicklungen des Vergessens und Banalisierens erfordern mehr denn je sofortiges Handeln. Alle Gemeinsam sollen wir ein klares Zeichen gegen das Schweigen und die zunehmende Akzeptanz solcher Haltungen setzen.
Was bedeutet es heute, nicht gleichgültig zu sein?
Wir dürfen es nicht hinnehmen, dass jüdische Kinder in der Schule von Gleichaltrigen beleidigt und ausgegrenzt werden. Auch der notwendige verstärkte Polizeischutz, den diese z.B. beim Religionsunterricht in der Synagoge erleben, hat problematische Wirkungen. Sie erleben sich als „andere“. Wir dürfen es nicht hinnehmen, dass jüdische Menschen in der Öffentlichkeit vorsichtshalber keine Symbole ihres Glaubens wie Kippa oder Davidsstern mehr tragen, dass Menschen sich ihre jüdische Zeitung nur noch im neutralen Umschlag liefern lassen, dass sie auf der Straße nicht hebräisch sprechen. Als Nicht-Jüdinnen und Juden müssen wir deutlich machen, dass wir sofort eingreifen, wenn antisemitische Äußerungen fallen, dass wir zu jüdischen Kindern, Frauen und Männern stehen, wenn sie angegriffen werden. Schutz durch die Polizei ist notwendig, Maßnahmen der Justiz sind notwendig. Zugleich ist es unser aller Aufgabe als Vertreterinnen und Vertreter von Institutionen wie Schule und Religionsgemeinschaften, von Betrieben, Vereinen und Medien und als Bürgerinnen und Bürger, antisemitischen Äußerungen jeglicher Art, auch israelbezogenem Antisemitismus, entgegenzutreten und Betroffenen zur Seite zu stehen. Es kommt auf jede, auf jeden von uns an.
Zur Solidarität mit Jüdinnen und Juden in unserer Stadt gehört die Erinnerung an die entsetzlichen Gräueltaten der Hamas und anderer Terrorgruppen an Menschen in Israel am 7. Oktober des vergangenen Jahres, an das Leiden der Opfer, der Misshandelten, Vergewaltigten und Gequälten, der Getöteten und Verletzen, an das Leiden ihrer Angehörigen und Freunde. Wir denken an die Geiseln und ihre schrecklichen Erfahrungen. Wir hoffen auf ihre umgehende Freilassung.
Die von Verfolgung und Gewalt betroffenen Menschen sollen im Mittelpunkt des Gedenkens stehen – und unseres Engagements heute.
„Sei ein Mensch“. Das sagt uns die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer.
Und das bedeutet, Anteil zu nehmen am Leiden anderer Menschen und für sie einzustehen.
Empathie und Solidarität können in unterschiedlichen Formen Ausdruck finden.
Mahnwachen, Kundgebungen, öffentliche Stellungnahmen und Trauergebete sind eine wichtige Ausdrucksform dieses Engagements.
Eine andere ist, Räume für Gespräche zu schaffen, öffentliche Räume und nicht-öffentliche. Diese brauchen wir zur Veränderung von Einstellungen und für eine respektvolle Diskussion in unserer gerade im Blick auf Antisemitismus oft so polarisierten Situation. Wir brauchen Begegnungen, Gespräche, Diskussionen mit jüngeren und älteren Menschen über die nationalsozialistische Verfolgung jüdischer Menschen in unserer Stadt und Region, über das Massaker der Hamas am 7. Oktober in Israel und den dadurch ausgelösten Krieg im Nahen Osten. Wir brauchen Möglichkeiten, gegenwärtiges jüdisches Leben in seiner Vielfalt kennenzulernen, wie sie z.B. die jüdischen Kulturwochen gerade bieten. Eine wichtige Frage für solche Begegnungen und Gespräche ist, wie es gelingt, noch mehr als bisher Menschen unterschiedlicher Milieus, Herkünfte und Zugehörigkeiten anzusprechen. Schulen – und zwar verschiedene Schulformen – sind hier ein ganz wesentlicher Bereich, aber wir denken auch an Vereine oder andere Orte, an denen ganz unterschiedliche Menschen im Alltag zusammenkommen.
Wir sind als GCJZ Darmstadt sehr dankbar dafür, dass nach 1945 ein neues Miteinander zwischen Jüdinnen und Juden und nicht-jüdischen Personen in der Stadt gewachsen ist. Wir sind sehr dankbar dafür, dass wir hier in der neuen Synagoge mit der jüdischen Gemeinde zusammen des 9. November gedenken können. Bei allem, was wachsen konnte an neuen Beziehungen – Selbstzufriedenheit auf nicht-jüdischer Seite, das möchten wir betonen, ist fehl am Platz. Nach dem Massaker des 7. Oktober und dem wachsenden – oder stärker zum Ausdruck kommenden – Judenhass, auch in unserem Land, stehen diese Beziehungen in einer Bewährungsprobe.
Ein Dialog über unterschiedliche Perspektiven im oder auf den Nahost-Konflikt und den gegenwärtigen Krieg mit seinen schrecklichen Folgen für die Zivilbevölkerungen, über unterschiedliche Einschätzungen des Handelns der Regierungen oder verschiedener gesellschaftlicher Gruppen in den beteiligten Staaten ist in der gegenwärtigen von großer Verunsicherung und Polarisierung geprägten Situation sehr wichtig und sehr schwierig. Umso dankbarer sind wir für alle, die sich solchen Gesprächen stellen.
Klar sein muss bei allen unterschiedlichen Wahrnehmungen und Einschätzungen: Das Massaker des 7. Oktober ist ein Gräuel und in keiner Weise zu rechtfertigen. Angriffe auf Jüdinnen und Juden und ihre Einrichtungen hier bei uns sind in keiner Weise hinnehmbar oder zu rechtfertigen. Die Angriffe auf israelische Fußballfans sind nicht zu rechtfertigen.
Eine wesentliche Lehre des heutigen Gedenktages ist: Wenn Öffentlichkeit und staatliche Gewalt erst einmal von Hass und Hetze beherrscht werden, ist es in Vielem zu spät. Der 9. November 1938 ist eine bleibende Erinnerung daran, wie zerbrechlich und kostbar Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Menschenwürde und Demokratie sind. Das verbindet ihn auch mit dem 9. November 1989, mit der friedlichen Revolution und dem Fall der Mauer. Der 9. November hält jedem und jeder von uns den klaren Spiegel vor, dass wir es sind, die Bürgerinnen und Bürger, alle, die hier leben, die über die demokratische Kultur unseres Landes entscheiden. Wir dürfen nicht müde werden, gegen Judenhass und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit Stellung zu beziehen und Veränderungsprozesse anzustoßen. Jeder, jede von uns hat Wirkungsmöglichkeiten.
Demokratiefeindliche Kräfte nutzen die Meinungsfreiheit und demokratische Wahlen, um Macht zu gewinnen. Es kommt darauf an, dass wir Parteien und Gruppierungen danach beurteilen, ob sie demokratische Werte vertreten, allen voran die Würde aller Menschen, ihre Gleichwertigkeit, unabhängig von sozialer Stellung, Religion, Herkunft, Geschlecht, körperlichen und geistigen Fähigkeiten, sexueller Orientierung. Und es kommt darauf an, dass wir als Bürgerinnen und Bürger über die Beteiligung an Wahlen hinaus ganz konkret Verantwortung übernehmen für die Gestaltung unseres Zusammenlebens, dass wir Probleme nicht nur beklagen, sondern um Lösungen ringen, in den Familien, in Nachbarschaften, Schule, Betrieb, in der Politik. Und dass wir nicht hereinfallen auf die, die angesichts der vielfältigen Krisen, in denen wir leben, einfache Lösungen versprechen.
Sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam dafür arbeiten, dass sich unsere Geschichte nicht reimt. Lassen Sie uns gemeinsam einstehen gegen Antisemitismus und die Bedrohungen unserer Demokratie.
Einfach ist das nicht. Aber verheißungsvoll.
Elina Becher Bernd Lülsdorf Ulrike Schmidt-Hesse